BEGREIFEN ERSETZT PAUKEN
Wollen wir uns die Liste von Seite 14 noch einmal ansehen. Interessanterweise ergeben sowohl die Begriffe als auch deren Reihenfolge Sinn. Die Liste enthält wichtige Stichwörter zur NEUROGENESE, das heißt zum ständigen Nachwachsen (Genese = »Geschaffenwerden«) neuer NERVENZELLEN (Neuronen), festgemacht an einem Gleichnis:
Stellen Sie sich ein gigantisches KLOSTER (Ihr Gehirn) vor, in dem viele fette alte MÖNCHE wohnen; sie sind nicht mehr lernbereit. In der Nähe des TORs warten geduldig sogenannte NOVIZEN (= Neumönche). Wenn irgendwo im Kloster eine Lernaufgabe ansteht, sind sie BEREIT, bei dieser AUFGABE zu HELFEN. Also EILEN sie dorthin und unterstützen die alten Mönchen beim LERNEN. Wann immer ein Novize ins Kloster eilt, wächst sofort ein neuer nach. Dieser KREISLAUF hält das gesamte Kloster (Gehirn) lernbereit – bis zum Tod des Gehirnbesitzers.
Neurogenese macht uns lernfähig, und zwar durch das Erkennen von Sinn, durch Begreifen von Bedeutung, durch Verstehen etc.
Kommt sie zum Erliegen, weil die jungen Novizen zu lange »warten« müssen und nicht »ins Kloster« gerufen werden (weil der Mensch, in dessen Gehirn sich das abspielt, nicht bereit ist zu lernen), dann wird dieser Gehirn-Besitzer depressiv. Hat der/die Betroffene viel Testosteron im Körper (vor allem bei jungen Männern der Fall), wird er/sie aggressiv.
Lernen wir hingegen regelmäßig, werden ständig neue Neuronen (= Novizen) durch nachwachsende ersetzt, und wir bleiben körperlich wie geistig fit. Das ahnten bereits die alten Römer, als sie feststellten, daß ein gesunder Körper und ein gesunder Geist miteinander einhergehen… Wir fügen also unserem Gleichnis vom KLOSTER hinzu:
PAUKEN ist der verzweifelte Versuch der »fetten alten Mönche«, ohne Hilfe der Novizen zu lernen.
Deshalb muß man sehr viel Zeit und Kraft investieren, um kurzzeitig (z.B. bis zur nächsten Prüfung) eine sehr magere Ausbeute zu gewinnen. Würden wir stattdessen gleich richtig lernen, könnten wir mit Hilfe der JUNGEN NERVENZELLEN (jenen Novizen nämlich) folgendes erreichen:
• Wir könnten mit weit weniger Zeit- und Energieaufwand lernen.
• Die neue Info wird in unser Wissens-Netz integriert.
• Das Gelernte bleibt langfristig im Gedächtnis, als Teil unseres Wissens.
Fragt sich nur noch, welche Techniken uns dabei helfen, wenn wir durch das Regelschul- und Ausbildungs-System fast ausschließlich Pauk-Methoden kennengelernt haben. Darum soll es in Teil II (ab Seite 39) gehen.
Nun fehlt nur noch die Antwort auf die eingangs gestellte Frage: »Welcher Aspekt ist für erfolgreiches Lernen am wichtigsten?« Ich hatte zur Wahl gestellt: Interesse beziehungsweise Motivation, viele Wiederholungen oder Angst vor schlechten Noten. Ich hatte bereits angedeutet, daß sich die Antworten in der Regel einigermaßen gleichmäßig auf alle drei Möglichkeiten verteilen. Tatsache aber ist, daß die beiden ersten Punkte genaugenommen BEGLEITERSCHEINUNGEN sind (sogenannte Epi-Phänomene), die sich automatisch ERGEBEN, wenn wir gehirn-gerecht vorgehen.
Gehirn-gerechtes Lernen produziert ein Hormon im Gehirn (DOPAMIN), das uns motiviert, am Ball zu bleiben. Dadurch entwickeln wir INTERESSE (Interesse geht mit MOTIVATION einher, es entsteht nicht im Vakuum). Ähnlich sind wir durch die »Dopamin-Duschen« bereit, viele Wiederholungen zu durchlaufen (bei Tätigkeiten), weil wir Freude daran haben zu sehen, wie wir langsam immer besser werden. Beim Erwerb von WISSEN müssen wir nur wenige intelligente Wiederholungen machen, da wir ja durch Verstehen (Begreifen) lernen, aber bei Tätigkeiten sind soundsoviele Wiederholungen nötig, ehe die neue Nervenbahn für diesen Ablauf angelegt ist. Und der dritte Punkt ist ein gutes Beispiel dafür, daß gehirn-gerechtes Lernen seine eigene Belohnung in sich trägt, da muß uns niemand mit der Angst vor schlechten Noten und vor dem Sitzenbleiben »vergewaltigen«!
Sie sehen also, daß es sich durchaus lohnt, »richtig« (= gehirn-gerecht) zu lernen, auch wenn Sie sich »nur« auf eine PRÜFUNG vorbereiten möchten! Zum einen macht gehirn-gerechtes Lernen extrem viel Freude, zum anderen ist alles, was Sie lernen, hilfreich, wenn Sie in der Zukunft einmal etwas Ähnliches lernen wollen/sollen oder etwas, das man als Fortsetzung sehen könnte.
Zum Abschluß von Teil I möchte ich Ihnen noch ein Wortbild (s. MERKBLATT Nr. 4, Seite 99ff.) zu unserem Schlüsselbegriff anbieten und die Einträge kurz kommentieren.
Die Begriffe PAUKEN und GEIST-volles Lernen (mit Sinn, Bedeutung) wurden oben schon erklärt, ebenso wurde die NEUROGENESE kurz vorgestellt, deren Fehlen zu Depression führt, während wir beim Gegenteil neben Gesundheit und Fitneß auch unseren UNTERNEHMUNGSGEIST aus ihr ziehen. Wann immer wir LERNEN, müssen wir neue NERVENBAHNEN aufbauen, die anschließend genutzt werden. Beim PAUKEN werden nur »Hilfsbahnen« angelegt, vergleichbar dem Nähen mit einem Heftfaden, der ein Gewand auf Dauer auch nicht zusammenhalten kann. Das GEWAND könnte übrigens eine weitere Metapher neben dem WISSENS-NETZ und dem WISSENS-GEBÄUDE sein… Jedenfalls nützen die Hilfsbahnen des PAUKENS wenig und nur kurzfristig, so daß sich die Mühe letztlich nicht lohnt und eine Verschwendung Ihrer geistigen RESSOURCEN darstellt.
010
Echtes LERNEN und NEUROGENESE gehen mit NEUGIERDE einher. Und es macht Spaß, Dingen nachzugehen, für die wir NEUGIERDE empfinden, während PAUKEN langweilig ist und den GEIST frustriert (schließt)!
Bleiben noch drei Begriffe zu besprechen:
ÜBERRASCHUNGEN
ÜBUNG
FERTIGKEITEN VOR und WÄHREND der Prüfung
Es gibt zwei Formen von ÜBERRASCHUNGEN, eine ist angenehm, die andere nicht: Wenn wir vor allem PAUKEN, werden wir oft während der Prüfung ÜBERRASCHT, weil eine Frage etwas anders formuliert ist oder einen Sachverhalt anders darstellt, als wir ihn ge-PAUK-t hatten, so daß die wackelige Hilfsbahnen-Konstruktion nicht erkennen kann, worum es geht, und wir die Infos nicht abrufen können. Angenehm sind hingegen ÜBERRASCHUNGEN beim echtem LERNEN, wenn wir auf Erkenntnisse stoßen, die uns verblüffen (sogenannte Aha-Erlebnisse), die beim PAUKEN jedoch so gut wie nie auftreten.
Was das ÜBEN angeht, so sollte auch klar sein: Wer in der Vergangenheit fast ausschließlich ge-PAUK-t hat, wird das wirkliche LERNEN zunächst ein wenig zögerlich angehen. Deshalb ist es wichtig, einen neurologischen TRICK zu kennen (er gilt auch für das Training von Verhaltensweisen):
INTERVALL-LERNEN: Immer wieder nur einige wenige Minuten lang das Neue lesen, schreiben, praktisch üben, dann Pause machen. So kann man am leichtesten umlernen und sich an die Vorteile echten Lernens gewöhnen.
Beispiel Schreibmaschine schreiben: Früher schrieb ich im Adler-Such-System (kreisen und blitzschnell zustoßen). Einerseits hätte ich sehr gern das 10-Finger-System beherrscht, da ich in zunehmendem Maße tippen mußte, aber es war mir nicht möglich, es zu lernen, da ich eine traumatische Schul-Erfahrung damit hatte. Diese führte dazu, daß ich jeden Versuch nach wenigen Minuten abbrechen mußte, weil so viel Haß und Frust in mir aufstieg, daß ich nicht weiterüben konnte. Das Problem hatte ich schon einige Zeit vor mir hergeschoben, als ich auf die Vorteile des INTERVALL-LERNENs stieß. Nun fragte ich mich, ob das vielleicht auch hier anwendbar wäre, und beschloß zu experimentieren. Ich probierte drei Dinge parallel: Erstens übte ich nur sehr kurz (jeweils maximal drei Minuten pro Trainings-Session), zweitens trainierte ich extrem langsam, und drittens ließ ich eine bestimmte Musik laufen, die ich damals sehr gern hörte, sozusagen als Gegenmaßnahme zu den extrem unangenehmen Gefühlen.
Nun, die Dreifachstrategie half: Ich überwand meine negativen Gefühle, weil ich sie jeweils nur kurz erleben mußte (bis meine Timer-Glocke schrillte) und sie durch die wunderbare Musik »abfedern« konnte. Das langsame Tempo tat das übrige (vgl. Seite 73ff.).
Beispiel Verhaltensänderung: Von den LeserInnen meines Hosentaschenbüchleins »Fremdsprachen lernen für Schüler mit der Birkenbihl-Methode« berichteten einige, daß sie es anfänglich etwas schwerer finden, den gehirn-gerechten LERNWEG zu gehen, und deshalb am liebsten weiter Vokabeln PAUKEN würden (weil sie daran gewöhnt sind). Wer aber täglich zweimal drei Minuten lang den NEUEN Weg probiert und den Vorteil erlebt hat, im Unterricht genau zu wissen, wovon die Rede ist, kann den alten Impuls, Vokabeln zu pauken, immer mehr abschwächen. Nach ca. sechs Wochen ist er ganz überwunden! Jetzt kann man erstens mit halbem Aufwand bessere Noten schreiben, zweitens beginnt man, die Fremdsprache langsam zu MEISTERN, und drittens hat man mehr Zeit für andere wichtige Dinge im Leben. Das können andere Fächer oder Hobbys sein.
Die FERTIGKEITEN VOR und WÄHREND der Prüfung sind die Fertigkeiten der KONSTRUKTION und der RE-KONSTRUKTION, das heißt der Art, wie wir Wissen »produzieren«, um es später (u.a. in Prüfungen) ABRUFEN zu können. Das ist das Thema von Teil II.
011
012