TRAINING – EXTREM LANGSAM
Zwar beziehen sich die meisten Prüfungen auf Wissen, aber es gibt auch Situationen, in denen ein Verhalten getestet wird – vom Wurzelziehen (Rechnen) über das Singen vom Blatt (Musik) bis zum Julienne-Schneiden (Koch-Prüfung). Deshalb möchte ich Ihnen auch eine Hilfestellung zum gehirn-gerechten Üben (Training) anbieten.
Heute ist allgemein bekannt, daß das sogenannte »Schattenboxen« (TAI CHI) eine extrem langsame Form des KUNG FU darstellt. Aber als ich begann, in diese Richtung zu experimentieren, leuchtete das Seminar-TeilnehmerInnen selbst dann nicht ein, wenn man versuchte, es ihnen zu erläutern. Ich hatte im amerikanischen Fernsehen einen Meister asiatischer Kampfkunst gesehen. Er beantwortete die Frage, wie er seine Schüler dazu bringt, extrem komplexe Bewegungen (z.B. mit dem Schwert) millimetergenau auszuführen (damit die Leute sich bei den Schaukämpfen nicht aus Versehen gegenseitig verletzen), indem er klarstellte: »Im Westen versucht ihr alles viel zu schnell zu lernen, während Asiaten im Zweifelsfall langsamer werden, wenn ein Bewegungsablauf nicht so durchgeführt werden kann, wie es verlangt wird.« Ich war erstaunt. Erinnerte ich mich doch, als Kind intuitiv LANGSAM üben zu wollen, was mir aber regelmäßig verboten wurde (z.B. beim Klavierspielen). Auch hier stoßen wir auf einen Mechanismus, der vielen Menschen vertraut vorkommt, weil ihr Gehirn sie dazu »animieren« wollte, gehirn-gerecht vorzugehen, was dann vom Schulsystem regelrecht VERBOTEN wurde.9
Also begann ich, mit Versuchspersonen zu experimentieren, und so fanden wir im Laufe von Jahren keinen einzigen Bewegungsablauf, den man nicht wesentlich SCHNELLER lernt, wenn man am Anfang LANGSAM genug beginnt. Ich habe später ein DENK-MODELL entwickelt, das aufzeigt, warum das so ist. Stellen Sie sich zwei Mitarbeiter im Hirn vor: Der eine ist der MARIONETTEN-SPIELER. Er muß an den richtigen »Fäden« ziehen, um die Muskeln zu BEWEGEN. Sein Kollege hingegen ist dafür zuständig, daß die neuen Bewegungsabläufe im Gedächtnis GESPEICHERT werden, er ist also der LERNER VOM DIENST. Nun können wir sagen: Wenn jeder von den beiden uns 50 Energie-Punkte »kostet«, wenn wir seine Leistung »bezahlen« wollen, dann würden wir annehmen, daß beide zusammen 100 Punkte »kosten«. Tatsache aber ist, daß sie einander stören (sogenannte Interferenz), weshalb sie im Team 150 Punkte »kosten«. Wenn wir aber mental üben (im Sport heute üblich), dann ist der MARIONETTEN-SPIELER nur MINIMAL beteiligt, während der LERNER fast allein arbeiten kann. Aber es gilt auch die Regel:
Je langsamer wir trainieren, desto weniger muß der MARIONETTEN-SPIELER in unserem Gehirn tun, desto weniger INTERFERENZ gibt es. Deshalb lernen wir leichter.
Das können Sie testen, indem Sie versuchen, eine gewohnte Bewegung ANDERS auszuführen. Beispiele:
• HAUSARBEIT: Denken Sie ans Geschirrspülen – normalerweise halten Sie die Spülbürste in Ihrer bevorzugten Hand, als Rechtshänder also mit rechts. Wenn Sie nun versuchen, die Bürste keinesfalls mit der »Haupthand« zu bewegen, sondern diese ruhig halten und stattdessen die Teller mit der anderen Hand spülen, dann haben Sie einen völlig neuen Bewegungs-Ablauf, für den Ihr Hirn eine neue Nervenbahn anlegen muß. Je langsamer und bewußter Sie die neue ungewohnte Bewegung trainieren, desto schneller kommen Sie insgesamt voran. Denn wir können neue Nervenbahnen umso schneller »basteln«, je weniger INTERFERENZ den »Aufbau« stört.
• JONGLIEREN: Beginnen Sie mit Seidentüchern, die Sie möglichst HOCH werfen. Das verlangsamt das Herabschweben und gibt Ihnen weit mehr Zeit, die nötigen Bewegungsabläufe LANGSAM zu trainieren. Nachdem Sie die Bewegungen kennen, können Sie ohne Tücher NOCH LANGSAMER trainieren, um die nötigen Nervenbahnen im Gehirn anzulegen, ehe Sie wieder »echt« üben – mit Tüchern, Sandbällen und dann erst mit richtigen Jonglier-Bällen.
• KALLIGRAPHIE: Viele Menschen10 klagen über ihre »unmögliche« Handschrift, tun aber nichts dagegen. Wenn Sie einen Selbst-Versuch unternehmen möchten, dann können Sie wie folgt vorgehen:
1. Zuerst schreiben Sie zwei ABC-Reihen (um den Ist-Zustand zu dokumentieren): eine in Großund eine in Kleinbuchstaben.
2. Danach teilen Sie die Buchstaben in drei Gruppen ein:
a. Buchstaben mit geraden Linien (A, E, F, H, I, K,...)
b. Buchstaben mit gerundeten Linien (C, O, S, U...)
c. Kombi-Buchstaben (B, D, G, J, P …) Wenn Sie bei einem Buchstaben unsicher sind (z.B. »Q«), dann entscheiden Sie selbst, wo sie ihn einsortieren wollen. Schreibt man das kleine »Schwänzchen« nämlich geschwungen, ist »Q« ein Buchstabe der zweiten Kategorie, andernfalls gehört es zu den Kombi-Buchstaben.
3. Nun beginnen Sie mit der ersten Kategorie: Versuchen Sie, diese Buchstaben EXTREM LANGSAM zu SCHREIBEN, eigentlich zu ZEICHNEN, ja vielleicht sogar mit einem dikken Filzstift oder Pinsel zu MALEN. Sie können jedoch auch mit dem FINGER auf Papier, auf der Tischplatte oder sogar in der Luft üben. Es geht darum, die Buchstaben so langsam wie möglich zu produzieren, und sich der Linienführung vollkommen bewußt zu werden, so daß das Gehirn genügend Zeit hat, die Nervenbahnen zu »reparieren«. Die »unmögliche« Schrift der Vergangenheit und Gegenwart entstand ja nur, weil man Teile der Buchstaben weggelassen oder stark verformt hatte, was ein Vergleich der ersten beiden ABCs mit einer guten Vorlage schnell bestätigt.11
4. Wiederholen Sie den Vorgang mit der zweiten Buchstabengruppe.
5. Wiederholen Sie den Vorgang mit der dritten Buchstabengruppe.
6. Beginnen Sie, erste Wörter zu schreiben, am besten Wörter, die Ihnen etwas bedeuten, so daß Sie sie gern extrem langsam und bewußt aufs Papier setzen möchten. Sie werden feststellen, daß sich Ihre Alltagsschrift langsam verbessert, ohne daß Sie beim normalen Schreiben daran denken…
Sie sehen, es lohnt sich, neue Wege zu gehen, insbesondere wenn Sie aus bitterer Erfahrung wissen, daß die Wege, die man Ihnen in Schule und Ausbildung beigebracht hat, nicht besonders gut funktionieren.